Ottmar Hitzfeld wollte ihn unbedingt. Doch Enrico Bizzotto erteilt der Trainerlegende eine Abfuhr. Diese Entscheidung hatte Einfluss auf seine Karriere, sein ganzes Leben. Der Murianer Enrico Bizzotto ist heute 55 Jahre alt, Hundehalter, Single – und er fragt sich, was wohl aus ihm geworden wäre, hätte er Hitzfeld zugesagt.
Er wohnt in einem kleinen Häuschen in Muri. «Ich bin hier geboren, ich werde wohl auch hier sterben», meint Enrico Bizzotto. Unverheiratet, Single, kinderlos. Und glücklich. Er hatte während acht Jahren eine Partnerin, das war «schon schön», wie er sagt. Das ist aber auch schon eine Weile her. Heute schmeisst er nebst seinem 100-Prozent-Job als Aussendienstler für Bauprodukte noch den ganzen Haushalt. «Das ist manchmal nicht so einfach.» Doch es geht. «Ich komme klar», meint Bizzotto. Aber: «Je älter man wird, desto schöner wäre es, eine Partnerin zu haben.» Aber er ist ein anspruchsvoller Typ. Und er macht Dinge ganz oder gar nicht.
Jeff, der Partner mit der kalten Schnauze
Der sympathische Bizzotto ist ein unkomplizierter Typ. Ein Mann, der gerne mit Freunden unterwegs ist, der nach wie vor in der Nähe seiner Eltern lebt – und er ist ein absoluter Hundeliebhaber. Jeff heisst sein Border Collie. «Er gibt mir sehr viel. Mit Jeff fühlt man sich nie alleine.» In den letzten Jahren schaute ein älterer Herr aus der Nachbarschaft zu Jeff – wenn Bizzotto bei der Arbeit war. Jener Hundesitter litt an Alzheimer. «Der Hund ging mehr mit ihm spazieren als umgekehrt. Es war eine sehr schöne Sache für den Mann und für Jeff – und auch für mich», so Bizzotto. «Leider ist der Mann mittlerweile verstorben.» Und nun schauen seine Eltern untertags auf den Vierbeiner. «Und ich geniesse jede freie Minute mit ihm.» Denn Jeff ist schon 13 Jahre alt. Ein stattliches Alter für einen Hund dieser Rasse.
Bizzotto gehört zu der Sorte Mensch, mit der man wohl stundenlang reden könnte. Empathisch, freundlich und mit einer positiven Grundeinstellung. So war er schon immer. Als junger Mann war er «immer auf der Piste», ein Lebemensch, der tausend tolle Geschichten auf Lager hat. Und er war ein begnadeter Fussballer, dessen Karriere aber nicht so gelaufen ist, wie man es ihm eigentlich gönnen würde.
14 Tore innert einer Stunde
In den 70er-Jahren lernt Enrico Bizzotto das Fussballspielen in Muri. Er war ein Strassenfussballer, wie er selbst sagt. Auf Stufe der D- und C-Junioren kickt er aktiv im Verein, natürlich beim FC Muri. Und er war nicht zu stoppen. Über 80 Tore schiesst er bei den D-Junioren. Einmal erzielt er 14 Kisten in einem Spiel (das nur 60 Minuten dauerte). Logisch, dass grössere Klubs auf ihn aufmerksam werden. Enrico Bizzotto wechselt zum FC Aarau. Bei den Bund A-Inter-Junioren gehört er weiterhin zu den Ausnahmetalenten.
Im Jahr 1984 kriegen er und seine Eltern Besuch vom neuen FC-Aarau-Trainer. Sein Name: Ottmar Hitzfeld. Unbedingt wollte er den jungen Enrico Bizzotto verpflichten und in die erste Mannschaft holen. Wenige Tage später kommt auch FC-Luzern-Präsident Romano Simioni zu den Bizzottos nach Muri. Einen Halbprofivertrag bot er dem 18-Jährigen an. «Ich wollte etwas Neues und entschied mich für den FC Luzern», sagt Bizzotto.
Beim FC Muri Schwung geholt
In seiner Aussage schwingt bereits etwas Wehmut mit. Denn: Der FC Luzern durchlebt eine schwierige Zeit, spielt gegen den Abstieg. «Der 19-jährige Enrico Bizzotto ist auch keine Alternative», steht nach seinem NLA-Debüt im Jahr 1984 in der Zeitung. Der FC Luzern wechselt den Trainer. Bruno Rahmen geht, Friedel Rausch kommt. «Er mochte mich nicht», so Bizzotto. Der psychische Druck wächst. Das junge Freiämter Ausnahmetalent droht in diesem Krisenteam kaputtzugehen. Bizzotto zieht die Reissleine, macht einen Schritt retour, geht zum FC Zug. Dort herrschen dieselben Probleme. Abstiegskampf. Auch hier ist es ein schwieriges Pflaster für einen jungen Kicker.
«Eine Kistallkugel, mit der man in die Vergangenheit schauen könnte, das wäre spannend», meint Bizzotto. Denn während er bei Luzern und Zug auf schwierige Verhältnisse trifft, feiert Ottmar Hitzfeld beim FC Aarau grosse Erfolge. In der Saison 1984/85 wird Aarau Cupsieger und Vize-Meister. «Was, wenn ich zu Hitzfeld und dem FC Aarau Ja gesagt hätte?», fragt sich Bizzotto. «Meine Karriere wäre wohl ganz anders verlaufen.» Ganz sicher sogar.
1986 verliert er zusehends die Lust am Fussball. Hinzu kommt eine Knieoperation. Enrico Bizzotto muss zurück nach Hause, Schwung holen. Beim FC Muri erlebt er grandiose Zeiten in der 1. Liga. «Mit einem überdurchschnittlichen Team dümpelten wir im Mittelfeld rum», erinnert er sich. Egal. Das Team ist gespickt mit grandiosen Typen – und so war auch der Ausgang jeweils unvergesslich. Die grösste Waffe im Angriff der Klosterdörfler: perfekte Flanke Bizzotto. Kopf balltor Rico Benito. So wurde auch der grosse Rivale FC Wohlen geärgert.
Der Höhepunkt und der Unfall, der alles verändert
1989 wird der FC Zürich auf den 1.-Liga-Spieler aufmerksam und lädt Bizzotto ins Probetraining ein. «Das Fussballspielen muss man dir nicht mehr beibringen», meint der FCZ-Trainer Hannes Bongartz, nachdem er Bizzottos Fähigkeiten gesehen hat. Er geht zum FC Zürich. 1989/90 als Halbprofi, 1990/91 als Vollproo. Der Job als Plattenleger konnte pausieren. Er ist auf der grossen Fussballbühne angekommen. Vom «Blick» wird er ins Team der Runde gewählt. Der Mittelfeldspieler erlebt seine fussballerischen Hochzeiten.
Am 16. Dezember 1990 spielt er sein letztes Spiel in der Nationalliga A. Was danach folgt, ist eine Horrorgeschichte. «Ein Unfall», sagt Bizzotto mit leiser Stimme. Im Training setzt er zum Kopfball an, ein Teamkollege fliegt mit angezogenen Knien in seinen Rücken. «Der schlimmste Schmerz meines Lebens», erinnert er sich.
Mit Andracchio zum FC Muri
Diagnose: Nierenriss. «Der Arzt meint, der Schmerz sei ähnlich wie bei einer Geburt», so Bizzotto, der anfügt: «Mein Bauch war auch geschwollen wie bei einer Schwangeren.» Er hat Glück im Unglück. Die Niere funktioniert zwar nicht mehr richtig, doch er muss sie nicht entfernen lassen.
Enrico Bizzotto erhält von den Ärzten Fussballverbot. Auch in seinen Beruf als Plattenleger durfte er nicht mehr zurück. «Wenn der anderen Niere etwas zugestossen wäre, dann wäre dies lebensbedrohlich», sagt er. Die grosse Fussballkarriere ist vorbei. Und das mit 25 Jahren. Wieder wäre ein Blick in die Kristallkugel spannend: «Was wäre gewesen, hätte ich mich nicht verletzt?»
Doch ganz fertig ist es noch nicht. 1993 vermittelt Enrico Bizzotto den Profikicker Salvatore Andracchio zum FC Muri. Andracchio – ein Freund von Bizzotto – wurde Spielertrainer in der 1. Liga. Und auch er schnürt sich nochmals die Töggelischuhe. «Wegen den Nierenproblemen habe ich mich nach den Spielen nur schlecht erholt.» Die Leistungsfähigkeit nimmt ab, die brillante Technik bleibt. Er wird im Sturm eingesetzt, im Mittelfeld – und schliesslich als Libero. 1995 war Schluss. «Ich wollte nicht mehr. Ich hatte in meinem Leben so viel Zeit mit Fussball verbracht, es war genug.»
Seit zehn Jahren keinen Sport gemacht
Er distanziert sich vom Fussball. Nach eigenen Aussagen hat er mittlerweile seit zehn Jahren keinen Sport mehr gemacht. Lachend meint er: «Ich bräuchte jemanden, der mir einen Tritt in den Arsch verpasst.» Er liebt seinen Job als Aussendienstler, er geniesst das Leben, trifft Freunde, geht gerne mit seinem Hund an die frische Luft. Der Fussball ist für ihn nur noch eine blasse Erinnerung. Eine falsche Entscheidung und ein Unfall haben ihm eine grosse Karriere verwehrt. «Es wäre viel mehr möglich gewesen», sagt er heute. Und dafür braucht er auch keinen Blick in die Kristallkugel.
Der Freiämter – Stefan Sprenger